Manuela
fror, während sie durch die Straßen lief. Schon die letzten
Dezembertage war es unangenehm kalt gewesen. Jetzt kam auch noch ein Schneeregen
hinzu, der in der Abenddämmerung alles in ein schmutziges Hellgrau
packte. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Manuela verbittert, während
sie ihren übervollen Reiserucksack auf dem Rücken zurechtschob.
Nein, dieser Rucksack enthielt weder Leckereien noch Geschenke noch sonstige
angenehme Dinge. Er barg die letzten Habseligkeiten, die ihr zusammen
mit der Kleidung am Leib gehörten: Ein mitgenommen aussehender Wollmantel,
darunter Jacke und Schal, abgewetzte Jeans, Stiefel, die aus den Nähten
gingen. Eine Mütze bedeckte die unordentlichen, schon lange Zeit
nicht mehr gewaschenen Haare. Zusammen mit der gebückten Haltung
und dem schleppenden Gang wirkte sie alt, dabei war sie erst Ende zwanzig.
Sie ging durch die Menschenmassen weiter, immer weiter, ohne zu wissen,
was ihr Ziel war. Sie bemerkte die Menschen um sich herum auch nicht,
selbst wenn sie angerempelt wurde. In ihren Gedanken durchlebte sie wieder
und wieder jene Szenen aus ihrem Leben, die jetzt fern und unwirklich
erschienen - und doch erst einige Wochen zurücklagen. Und wie schnell
alles gegangen war: Im August ihren Job bei einer der vielen Internet-Firmen
verloren, die momentan pleite gingen, im September die ersten Geldschwierigkeiten,
weil sie die aufgenommenen Darlehn nicht zurückzahlen konnte, im
November Pfändung und Räumungsklage. Bei ihrem Schuldenberg
nützten auch nichts die paar kümmerlichen Job-Angebote, als
Aushilfe, Kellnerin oder Putzfrau irgendwo zu arbeiten. Freunde hatte
sie hier nicht, da damals wegen des neuen Jobs von einem kleinen Dorf
im Schwarzwald nach Hamburg gezogen war. Und wer 10, 12 oder manchmal
gar 16 Stunden hinter einem Monitor verbringt, der hat keine Zeit, neue
Freunde zu finden.
Die Erschöpfung nahm zu, sie mußte einen Platz finden, der
einigermaßen im Trockenen lag. Das Viertel, in dem sie angekommen
war, kannte sie nicht. Mehrstöckige Häuser aneinandergereiht,
dicht an der Straße, mit kleinen Treppchen zu den Eingangstüren.
Eine der Türen war nur angelehnt. Sie hatte schnell gelernt, daß
trockene Kellerräume zum Übernachten besser als feuchte Ecken
in Stadtparks waren. Sie wartete einige Minuten, nichts schien sich im
Treppenhausflur zu rühren, so daß sie die Tür aufstieß.
Tatsächlich, links schien eine Treppe in den Keller zu führen.
Langsam tastete sie sich vor, das Licht anzumachen schien ihr zu gewagt.
Nein, sie hatte nicht das Glück, eine offene Kellertür vorzufinden.
Aber immerhin konnte man die Ecke vor der Tür von oben nicht einsehen
und die zwei Quadratmeter Betonboden würden ihr genügen. Jetzt,
da sie einen Ort für die Nacht gefunden hatte, brachen Erschöpfung
und Hunger mit aller Gewalt auf sie ein. Hunger! Die Szene der mitleidigen
Metzgereiangestellten, sicher nur ein Lehrling, durchzuckte ihren Kopf
wie ein Blitz. Irgendwo in ihrem Rucksack mußte doch noch jenes
Stück Leberwurst vorhanden sein. Ihre Augen hatten sich inzwischen
an das Halbdunkel gewöhnt und sie wühlte verzweifelt in ihren
Sachen. Als sie ein Handtuch hervorholte, rollte die Wurst mit einem dumpfen
Plumps auf den Boden. Doch bevor sie sich bücken konnte, war dieses
herrliche, köstliche, wundersame Lebensmittel verschwunden. Geschnappt
von einem gemeinen häßlichen Kater, der damit davonrannte.
Natürlich hatte Manuela nur die Umrisse einer Katze gesehen, aber
für sie war klar, daß dies eines der gemeinsten und häßlichsten
Tiere in ganz Hamburg war. Und daß es männlicher Natur war
(ihre Erfahrungen mit Männern waren nicht die besten). Wut und Zorn
ließen die Erschöpfung verschwinden und sie jagte der Katze
hinterher, die inzwischen schon die Treppe zum ersten Stock genommen hatte.
Ohne Rucksack kam sich Manuela zwei Zentner leichter vor, so daß
sie jeweils drei Stufen auf einmal nahm und die Katze im zweiten Stock
in ein Zimmer huschen sah. Die Tür war nur angelehnt und stand jetzt
einen größeren Spalt offen. Fast wäre Manuela wütend
in die Wohnung gestolpert, bremste aber doch und hämmerte heftig
auf den Türrahmen, während sie gleichzeitig wie wild klingelte.
Doch drinnen tat sich nichts, auch war der Wohnungsflur dunkel. Offensichtlich
war der Wohnungsinhaber nicht anwesend. Sie hörte mit dem Lärm
auf, weil sonst mit Sicherheit ein neugieriger Nachbar in Erscheinung
getreten wäre. Manuela kämpfte einen stummen Kampf mit sich
selber. Nein, soweit war es mit ihr noch nicht, daß sie in fremde
Wohnungen einbrechen würde. Andererseits: diese herrliche, köstliche,
wunderbare Leberwurst einfach aufgeben? Wenn sie noch lange zögerte,
war die Wurst bestimmt bereits im Magen dieser schändlichen Katze
verschwunden. Nie in ihrem Leben hatte sie Katzen mehr gehaßt als
in diesen Sekunden. Okay, sie würde das Untier wahrscheinlich in
der Küche oder im Badezimmer stellen können, ihr die Wurst entreißen
und ganz schnell wieder verschwinden. Manuela trat mit einem raschen Schritt
in die Wohnung und schloß leise die Tür, um Licht machen zu
können. Aus dem einen Raum kamen Geräusche, natürlich,
es war die Küche, natürlich, die Katze war dort in eine Ecke
gekrochen, natürlich, von der Wurst war nichts mehr zu sehen. Manuela
hätte vor Wut heulen können! Eigentlich mußte der Besitzer
oder die Besitzerin doch wohl für die Untaten des eigenen Haustieres
aufkommen, dachte sie beim Anblick des Kühlschranks. Und während
sie dies dachte, hatte sie bereits die Kühlschranktür geöffnet.
Was für ein Kühlschrank! Nein, nicht dem Modell "Miele
2005" galt ihre Bewunderung - ihr Blick war vielmehr gebannt von
den Inhalten jenes kalten Möbelstücks. Wurst war da, Käse,
Wein - der Anblick war derart überwältigend, daß Manuela
alle Vorsicht fahren ließ. Innerhalb von Sekunden hatte sie sich
auf einem größeren Frühstücksbrett einige Brote hergerichtet.
Sie beschwichtigte ihre innere Unruhe mit dem juristisch nicht ganz einwandfreien
Gedanken, daß schließlich zum Schadensersatz noch Schmerzensgeld
hinzukommen müßte, das sie sich hier in Form von Naturalien
nahm. Und wie wunderbar mollig war es hier war. Sollte sie wirklich das
Essen auf dem kalten Betonboden im Keller verspeisen? Mit der Platte in
der einen Hand und dem zweiten Stück Brot in der anderen ging sie
durch die Räume, bis sie das Wohnzimmer entdeckt hatte. Ein Wohnzimmer
mit einem Sofa! Mit einem herrlich bequemen Sofa! Sie ließ die Tür
offen, so daß das Flurlicht genügte. Noch zweimal ging sie
in die Küche, um jeweils nur noch "eine Winzigkeit" an
Nachschub zu holen. Ab der dritten belegten Platte war sie annähernd
gesättigt und nun schaute sie sich ein wenig im Wohnzimmer um. Wer
mochte hier wohnen? Normalerweise erriet sie den Charakter eines Menschen
an seinen Büchern, aber die mußten in einem anderen Zimmer
sein. Der Schreibtisch war fast leer bis auf ein Notebook. Wie hatte sie
diese Dinger geliebt! Sie war gut in ihrem Job gewesen. Fast unbewußt
öffnete sie das Notebook, das offensichtlich nur in den Standby-Modus
geschaltet worden war. Die wenigen Piepser erschreckten sie so sehr, daß
sie in heller Panik das Gerät wieder abschalten und schleunigst in
ihren Keller verschwinden wollte. Doch inzwischen waren auf dem Bildschirm
die ersten Codezeilen aufgetaucht. Der Besitzer schien an einem Delphi-Programmcode
herumzubasteln. Nur noch eine einzige Minute, nahm sie sich fest vor,
nur so aus Neugier einen Blick drauf werfen. Und schon rollten die Programmzeilen
hoch und
runter und vor ihren geistigen Augen bildete sich die Programmstruktur
ab. Sie erkannte schnell, daß es sich um die Entwicklung einer Sicherungs-Software
für Webserver handelte. Gut gemacht, wirklich. Bei einem Unterprogramm
stutzte sie: das war doch Humbug! Diese Verzweigung war völliger
Unsinn und öffnete Hackern Tür und Tor! Ohne es wahrzunehmen
hatte sie sich ein weiteres Glas Wein eingeschenkt und ging die Programmzeilen
durch. Ihre Finger jagten über die Tasten, Ziffernfolgen wurden korrigiert,
entfernt, neue hinzugeschrieben. Wie in Trance saß sie Stunde um
Stunde im fahlen Schimmern des Bildschirms, bis sie gegen fünf Uhr
morgens die letzte Taste drückte. Sie lehnte sich kurz zurück,
um dann zu erschrecken. Ich muß wahnsinnig sein, durchfuhr es sie,
doch jetzt war es zu spät. Ich bin absolut irre, absolut irre, sagte
sie sich immer wieder, während sie sich zum Sofa schleppte, um einen
letzten Bissen des inzwischen trockenen Brots zu essen. Doch die Erschöpfung
des Tags, das stundenlange Programmieren und die zwei Flaschen Rotwein
forderten ihren Tribut: Sie schlief auf der Stelle ein. Tief und fest
und traumlos.
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Irgend etwas weckte sie. Sie blinzelte und nahm helles Tageslicht wahr.
Ächzend richtete sie sich auf. Sie wußte nicht, wo sie war,
bis sie die Katze wahrnahm, die um ihre Beine strich. Noch einige Sekunden
dauerte es, aber dann kam die Erinnerung übermächtig. Sie fuhr
vom Sofa in Panik auf und stieß dabei ein Glas um. Im Zimmer war
eine Uhr, es war später Nachmittag. Und jetzt hörte sie Schritte
auf dem Flur. Oh Gott, dachte sie, jetzt ist alles aus! Nun würde
zu ihrer Obdachlosigkeit, zu den Schulen, zu der Arbeitslosigkeit auch
noch die erste Vorstrafe hinzukommen. Im Türrahmen stand ein Mann,
der mächtig stark aussah. Elegant, aber wie gesagt: mächtig
groß und stark. Und er sah ernst aus. Was sagt man in solchen Momenten?
"Ich kann alles erklären", stotterte Manuela und kam sich
ausgesprochen dumm vor. Der Mann legte eine Hand auf ihre Schultern, drückte
sie aufs Sofa zurück, zog einen Stuhl herbei, setzte sich und meinte
- während seine Mundwinkel zuckten: "Da bin ich aber gespannt.
Na, erklären Sie mal ..."
Manuela schluckte. Schluckte nochmal. Und nochmal. "Also, da war
diese Katze. ... Und meine Wurst ... Und, und ich habe geläutet!"
Sie erwartete eine Reaktion von ihrem Gegenüber, aber der Mann lehnte
sich nur zurück und gab mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß
er sie nicht unterbrechen wollte. Wie gemein! dachte Manuela. Der läßt
mich jetzt hier stottern und stottern und hat wahrscheinlich schon längst
die Polizei alarmiert. Was für ein Ekel! Ein richtig unsympathischer
Typ. Gut, nicht völlig unsympathisch. Eigentlich sah er ja ganz gut
aus. Und er bewahrte die Ruhe. Vielleicht konnte man ihn doch noch irgendwie
beschwatzen. So ein paar belegte Brote, das war doch eigentlich nicht
die Welt. Während sie dies dachte und dabei unermüdlich weiterredete,
fiel ihr Blick auf den Schreibtisch. Das Notebook war verschwunden! Dann
hat er es bemerkt, jetzt ist alles aus, schoß es ihr durch den Kopf.
Dann war aber auch alles egal. Jetzt erzählte sie weiter. Auch von
dem Keller, von ihren Schulden, von ihrer Obdachlosigkeit. Als sie aufhörte,
schwieg er noch immer, deutete kurz mit dem Daumen auf den Schreibtisch
und fragte: "Und die Sache mit dem Programmcode? Wie wollen Sie die
erklären?"
Manuela wurde noch eine Spur blasser. Aber was hatte sie zu verlieren?
Also fuhr sie fort: "Na hören Sie! Wer baut den heute noch eine
Huffman-Routine in eine redundante Doppelung ein?" Ihr Gegenüber
zog hörbar die Luft durch die Nase und seine Gesichtszüge wurden
härter. "Ach, Sie sind der Ansicht, daß das überflüssig
war?" "Überflüssig?!" rief Manuela empört.
"Überflüssig?! Das ist geradezu gemeingefährlich!"
Sie wollte fortfahren, aber in diesem Moment klingelte es an der Tür.
Manuela brach abrupt ab. Nun kamen sie also, um sie mitzunehmen. Der Mann
erhob sich, um zu öffnen. Sie hörte geflüsterte Stimmen.
Dann kam ihr "Gastgeber" mit einem anderen Mann zurück.
"Darf ich vorstellen", sagte er. "Das ist Klaus Neubert
und ... ach, wie unaufmerksam von mir, ich heiße Stephan Clasen
und hier haben wir ...." Manuela nannte ihren Namen.
Der andere setzte sich mit einem neugierigen Blick auf Manuela, während
jener Clasen mit den Worten "Da haben Sie uns ja was Schönes
eingebrockt!" in die Küche verschwand. Er kam aber gleich darauf
wieder, diesmal mit einer Flasche Sekt, drei Gläsern und deutlich
freundlicheren Gesichtszügen. Er drückte der erstaunten Manuela
und dem anderen Mann jeweils ein Glas in die Hand und sprach, während
er die Flasche öffnete, weiter:
"Heute morgen hätte ich um ein Haar die Polizei geholt, wenn
mein Blick nicht auf das offene Notebook gefallen wäre. Inzwischen
habe meine Mitarbeiter Ihre Korrekturen' überprüft. Sie
haben tatsächlich den Fehler gefunden, dem wir schon seit Wochen
versuchen, auf die Spur zu kommen und der mein Softwarehaus einige Millionen
an Schadensersatzansprüchen hätte einbringen können. ...
Aber jetzt sitzen Sie doch nicht so versteinert da, trinken Sie, wir haben
etwas zu feiern!" Und wieder wie im Traum hob Manuela ihr Glas, trank
und hörte weiter zu.
Nun,
es kam, wie es kommen mußte: Manuela erhielt in jenem Unternehmen
den Traumjob ihres Lebens, ihr unfreiwilliger Gastgeber entwickelte sich
zum Traummann und bereits in den Weihnachtstagen des nächsten Jahres
lag ein traumhaft schönes Baby unter dem Tannenbaum ...
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