Weihnachten und Endorphine

von Herbert Hertramph

Der Schnee fiel aus dem dunklen Abendhimmel in dicken Flocken auf die kleine Baubaracke in der Nähe des Waldes. Konstantin schüttelte sich vor der Tür, damit der Schnee von seiner Jacke abfiel und zog sich die Stiefel aus, bevor er eintrat. Denn es gab keinen Flur - man landete direkt im "Wohnzimmer". Genaugenommen war dieser erste Raum das "Küchen-Wohn-Arbeits-Schlafzimmer" von Konstantin. Der kleinere zweite Raum sollte eigentlich das "Kinder-Schlaf-Spiel-Aufenthaltszimmer" der beiden Kinder sein. Doch da es keine Fenster hatte, hielten sich die Kinder meist im ersten Zimmer auf. Während Konstantin seine Kleider abklopfte, wanderte sein Blick umher: Bärbel stand an einem der Fenster und zählte Schneeflocken. Ihre blonden Locken schienen dabei das Licht widerzuspiegeln. Sie wurde "die Große" genannt, obwohl sie erst acht Jahre alt war. Aber ihr Bruder Peter, der gerade sehr angestrengt mit Buntstiften und Papier auf dem Boden beschäftigt war, war vier Jahre jünger. In einer Ecke war die "Küche" untergebracht. Sie bestand aus einer Spüle, einem Gaskocher, der auch für die Heiß-Wasser-Zubereitung herhalten mußte und einem selbstgezimmerten Holzschrank für das Geschirr. Die übrigen Möbel hatte Konstantin vom Sperrmüll besorgt: ein Resopaltisch, dessen Seitenränder sich langsam auflösten, dazu vier verschiedenen Stühlen, ein grün-samtenes Sofa und zwei Sessel, von denen einer sogar zum Sofa paßte. Ein Ofen, der noch mit Holz und Kohle gefeuert wurde, sorgte für Wärme.

Müde setzte sich Konstantin aufs Sofa. Es war schon nach acht Uhr, und so bat er die Kinder, in den kleinen selbstgezimmerten Anbau zu gehen, der gleich neben der Baracke war. Dieser Anbau enthielt eine Toilette und etwas, was man mit viel Wohlwollen als Duschkabine bezeichnen konnte. Dort hatte Konstantin gerade warmes Wasser hingebracht. Das war auch der Grund, weshalb Peter trotz eines sehnsüchtigen Blicks auf seine Zeichnungen sofort die Hand seiner Schwester ergriff und wortlos mit ihr mitging. Sie wußten, daß sich bei diesen Außentemperaturen die Wasserwärme nur kurz halten würde. Konstantin drehte sich Petroleumlampen etwas niedriger. Jetzt konnte auch er die Schneeflocken fallen sehen und sogar ab und zu das Blitzen eines Sternes. "Gott zündet seine Kerzen an", hätte Ann jetzt gesagt.

Ann! War es wirklich erst drei Jahre her? Ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Sie hatten sich während ihrer Studienzeit in Heidelberg kennengelernt. Die junge Ökotrophologin spielte abends Saxophon in einem Jazzkeller. Ach, sie war herrlich! Sie kannte keine Konventionen, war ständig auf den Beinen, mußte immer irgendetwas unternehmen. Ihr langes hellbraunes Haar flatterte im Wind, wenn sie sich übermütig auf einen Brunnenrand schwang. Und ihr Lachen erst - ihr Lachen vertrieb alle düsteren Gedanken. Konstantin war eigentlich nie recht klar, wieso sich ein solcher Wirbelwind in ihn, den ruhigen, fast schon gesetzt wirkenden Chemiestudenten so wahnsinnig verlieben konnte. Okay, er war intelligent, gut im Bett, treu und konnte zuhören. Aber bei allen anderen Dingen, auf die Frauen sonst Wert legen, versagte er völlig, z. B. bei tropfenden Wasserhähnen oder beim Rückwärts-Einparken. Sie zogen zusammen und wider Erwarten nahm ihre Zuneigung nicht ab - eher noch zu, weshalb sie sich auch für Kinder entschieden. Konstantin erhielt seine erste Stelle bei einem Konzern in Mannheim, Ann engagierte sich immer mehr in einer Umwelt-Organisation. Durch diese Tätigkeit wurde sie auch auf einen Plutonium-Deal aufmerksam, den der BND eingefädelt hatte. Sie ermittelte verdeckt, so daß Konstantin sie oft wochenlang nicht zu Gesicht bekam. An einem Dienstagabend bekam er einen Anruf von ihr. Sie habe nun genug Material zusammen und wollte es am nächsten Tag öffentlich machen. Am nächsten Tag stand nicht Ann vor der Tür, sondern zwei Polizisten. Sie überbrachten ihm kurz und nüchtern die Nachricht, daß Ann in München einen "tragischen Unfall" erlitten habe und unter die Räder einer Straßenbahn gekommen sei. Für Konstantin brach eine Welt zusammen. Erst Tage später versuchte er, das Material, das Ann gesammelt hatte, ausfindig zu machen. Aber ihr Hotelzimmer war längst durchwühlt worden. Gleichzeitig bekam er völlig unvermittelt Schwierigkeiten im Unternehmen. Bislang war sein Aufstieg, auf Grund seiner hohen Qualifikationen, nahtlos und ohne Probleme verlaufen. Nun schottete man ihn plötzlich zunehmend von Geschäften ab, die mit Auslandskontakten zu tun hatten. Eine der großen Handelspartner des Unternehmens war der Irak, und Konstantin hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß ihm die Konzernaktivitäten in diesem Land höchst merkwürdig vorkamen. Das nahm man zum Vorwand, um ihm unter vier Augen mitzuteilen, daß man an keiner weiteren Zusammenarbeit interessiert sei. In dem Jahr darauf mußte Konstantin feststellen, daß offensichtlich auch kein anderes Unternehmen an ihm interessiert war. Er stand auf einer "Schwarzen Liste", deren Existenz natürlich jeder Personalchef leugnete. Peter war etwas über ein Jahr, Bärbel fünf, als Ann starb. Konstantin mußte einen großen Teil seiner Zeit zu Hause verbringen, das Arbeitslosengeld war bald aufgebraucht. Nun folgte rasch Arbeitslosenhilfe, die eigentlich durch Sozialhilfe ergänzt werden mußte. Aber das brachte Konstantin nicht übers Herz. Wir alle wissen, daß bei Sozialhilfe das Einkommen von Verwandten in gerader Linie angerechnet wird. Die Mutter von Konstantin hatte nicht mehr als eine schmale Rente, die seit den Haushaltseinsparungen noch schmaler geworden war. Die Eltern von Ann lebten schon lange nicht mehr - er mußte zusehen, wie er sich ohne fremde Hilfe durchschlug. So waren sie schließlich in dieser Baracke eines alten Freundes, der keine Miete wollte, an der Grenze zur Schwäbischen Alb gelandet. Dies war ihr erstes Weihnachten hier draußen.

Als die beiden zurückkamen, hatten sie schon ihre Schlafanzüge an. Konstantin hatte zwei Kerzen angezündet. An diesen vorweihnachtlichen Abenden ließen sie oft die Gute-Nacht-Geschichte ausfallen und standen stattdessen zu Dritt vor dem Fenster, um den fallenden Schneeflocken in Stille zuzusehen. Bärbel erklärte Peter gerade, daß die Sterne am Himmel in Wirklichkeit große Leuchtkäfer wären, die den himmlischen Heerscharen den Weg wiesen. Und jetzt im Winter würden sie sich vor Kälte so schütteln, daß Teile ihres weißen Pelzes als Schneeflocken auf die Erde fielen. Peter schaute mit offenem Mund zum Fenster hinaus: "Was Du alles weißt", meinte er zu Bärbel gewandt. "Ja Bärbel, Du bist halt schon viel größer als ich. Ich hab' immer geglaubt, daß die Sterne große gasförmige Gebilde wären, die mit Millionen von Grad verglühen. Und Schneeflocken habe ich immer für einen anderen Aggregatzustand von Wasser gehalten, den es in hohen kühlen Luftschichten annimmt." Bärbel strich ihrem Bruder liebevoll durch das Haar und meinte: "Bist halt ein rechtes Dummerle, Peter. Aber Du wirst die Sachen auch noch tüchtig lernen, wenn Du mal in die Schule kommst." Konstantin lächelte - ja, Bärbel kam ganz nach ihrer Mutter. Dann ging es ab ins Bett. Liebevoll deckte Konstantin die beiden zu, gab jedem einen Kuß auf die Stirn und schloß leis die Tür.

Im Wohnzimmer räumte er die wenigen Spielsachen auf, die seine Kinder besaßen, spülte schnell, schaute zu, daß auf dem Holztisch kein Brösel zurückblieb und rückte einen der grün-samtenen Sessel ans Fenster. Jetzt brannte nur noch eine Kerze. Konstantin schaute in die Dunkelheit hinaus und atmete schwer. Er selbst kam mit dem kargen Leben durchaus zurecht - aber daß er seinen Kindern so gar nichts bieten konnte, daß tat ihm schon in der Seele weh. Schon seit einigen Wochen versuchte er, aus Holz und einigen Abfallmaterialien etwas Spielzeug herzustellen, aber seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet waren bescheiden. Es würde nicht viel zu Weihnachten geben. Er dachte an die Geschichten seiner Kindheit zurück, die von Weihnachstmännern, Christkindern und Engeln handelten und immer ein Happy End hatten. Ach, so ein Engel, das wäre jetzt was. Er konnte sich so sehr in seine Vorstellungen vertiefen, daß er wirklich im Schnee einen Engel auf das Haus zustapfen sah. Er gab diesem Bild nach. Es vermittelte etwas von Wärme, Geborgenheit ...

In diesem Moment klopfte es laut gegen die Tür. Konstantin schrak auf und schoß regelrecht aus seinem Sessel auf. Als der die Tür öffnete, stand der Engel vor ihm, den er gerade durch das Fenster gesehen hatte. Aber es war gar kein Engel. Es war eine junge Frau mit einem weißen Wintermantel, einer weißen Mütze, weißen Handschuhen und einer verfrorenen Nase. "Bitte", hauchte sie, "darf ich reinkommen?" Das war keine Frage. Immer noch völlig überrascht und unfähig, ein Wort zu reden, gewährte er ihr durch Gesten Einlaß. Sie trat ein und mußte sich vor Erschöpfung sofort gegen eine Wand lehnen. "Schon drei Stunden wandere ich in dem Schneegestöber umehr", sagte sie leise, und man konnte unschwer erkennen, daß sie den Tränen nahe war. Zu allem Überfluß begann nun auch noch ihre Nase zu tropfen. ‚Wie ein kleiner nasser Dalmatiner", dachte Konstantin bei sich und hatte Bilder von Walt Disney's Zeichentrickfilm vor Augen. Als sie begann, langsam an der Wand runterzurutschen, wurde er schnell in die Wirklichkeit zurückgeholt und fing sie auf. Er half ihr, den Mantel, die Mütze und die Stiefel auszuziehen und führte sie zum Sessel, worin sie schwer niedersank. Er wollte eine Petroleum-Lampe anmachen, aber sie meinte: "Nein, bitte, lassen Sie es, wie es ist. Es ist gut so." Sie willigte ein, daß er einen Früchtetee zubereitete. Langsam wurde ihr Atem ruhiger. Inzwischen hatte er auch ein Stofftaschentuch aus dem Wäsche-Geschirr-Schrank geholt - Papiertaschentücher konnten sie sich schon lange nicht mehr leisten - und ihr sachte in die Hand gedrückt. Dankbar lächelnd schaute sie ihn an. Und Konstantin überkam ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gehabt hatte: Es war etwas, das Pe Werner - die übrigens vom Typ her genau nach seinem Geschmack war - als "Kribbeln im Bauch" oder Herbert Grönemeyer - der einen sehr sympathischen Vornamen hatte - als "Flugzeuge im Bauch" beschrieben hatten. Peterle würde jetzt sicher sagen, daß es sich um Neurosubstanzen auf der Basis von Morphinen, also um Endophine, handele, die im Gehirn eine Transmitterfunktion zwischen der Großhirnrinde und der retinalen Formation ... aber was wußte Peter schon von Liebe!

Konstantin rückte seinen Sessel gegenüber des ihren hin und ließ sie in aller Ruhe ihren Tee trinken, ohne auch nur durch eine einzige Frage die Stille zu stören. Langsam kam wieder Leben in sie, und sie fing an, ihn mit interessierten Blicken zu mustern. Solche Blicke von Frauen scheute Konstantin in der Regel, er war mehr der zurückhaltende Typ. Sicher, er war intelligent, gut im Bett, treu und konnte zuhören. Aber bei allen anderen Dingen, auf die Frauen sonst Wert legen, versagte er völlig, z. B. bei Autoreparaturen oder beim Möbeltransport. Oft hatte er auch das Gefühl, daß er sich in seinen Gedankengängen wiederholte.

Nun endlich nannte sie auch ihren Namen: Raphaela. Raphaela, das zerging auf der Zunge wie weiße Kokosnußbällchen ohne Schokoloda. Raphaela klang wie der Name eines Engels - oder wie der Name einer Radiomoderatoren im Stuttgarter Raum, die für ihn immer unerreichbar blieb. Nur ihre Senden hatte er früher, als sie noch ein Radio besaßen, immer gehört. Es waren jene moderierten Sendungen, während derer Hörer anrufen und über ihre Probleme sprechen konnten: Ob man Liebe machen dürfte, ohne vorher geduscht zu haben; ob kleinwüchsige Bartträger vom Leben besonders benachteiligt seien; ob Frauen sich wegen der Gleichberechtigungsquote auch am Männer-Strip beteiligen sollten usw. Ja, er hatte diese Sendungen geliebt!

Raphaela hatte Vertrauen zu Konstantin geschöpft. Sie spürte irgendwie, daß sie ihm ihr Herz ausschütten konnte. Peterle hätte jetzt sicher gesagt, daß evolutionsgeschichtlich Frauen die soziale Treue eines Mannes, der ihre Jungen beschützen sollte, über kommunikative ... aber was wußte Peterle schon vom Leben! Und Raphaela beschloß, völlig offen gegenüber Konstantin zu sein. Sie erzählte ihm, daß sie heute Abend in der festen Absicht, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, in die Kälte aufgebrochen sei. Ihr sei alles so sinnlos vorgekommen. Gewiß, sie hatte Geld, mehr als sie ausgeben konnte, sah mit ihren 34 Jahren immer noch blendend aus, hatte eine Traumfigur und einen Doktor-Titel in Philosophie - aber im Grunde ihres Herzens war sie einsam. Konstantin fragte sanft, ob sie nicht vielleicht beruflich Kraft ... schon traten wieder Tränen in ihre Augen. Das sei ja gerade das Schlimme: ihr Beruf! Konstantin befing eine Ahnung: Sollte sie in einsamen Nächten Männerbekanntschaften ... Aber nein, gleich die nächsten Sätze zerstreuten seine Vermutungen. Nein, sie habe gleich nach dem Studium Karriere gemacht, sei heute die Moderatorin einer erfolgreichen Talksendung im Radio, wäre ständig von Menschen umgeben. Konstantin erstarrte förmlich: War sie es wirklich? Konnte das sein? War sie "seine" Raphaela? Inzwischen redete Raphaela weiter: Seit Jahren würde sie sich die Probleme von Wohlstandbürgern und -bürgerinnen anhören: Ob kleinwüchsige Bartträger vom Leben besonders benachteiligt seien oder ob man vor der Liebe duschen müßte. Jahraus, jahrein immer das Gleiche. Bestand das ganze Leben nur aus Bartträgern und Duschen? War das alles? Nein, sie hielt es einfach nicht mehr aus, diese Sinnlosigkeit, diese Eintönigkeit, diese Flachheit, diese Gedankenlosigkeit ... Dann doch lieber gleich Schluß machen, hatte sie gedacht. Doch nachdem sie eine Weile durch den Schnee gestiefelt war - ihr Auto hatte sie an einem Waldparkplatz stehen lassen - war ihr kalt geworden. Nach einer weiteren Weile war ihr noch kälter geworden, und sie fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sie endlich stürbe. Peterle hätte jetzt warscheinlich erwähnt, daß die Körpertemperatur ... aber was verstand Peterle schon vom Tod! Schließlich war es doch arg kalt, die Vorstellung einer Dusche mit warmen Wasser erschien ihr plötzlich in einem völlig anderen Licht, und sie beschloß, weiterzuleben. Aber inzwischen hatte sie sich schon verirrt und fand den Weg zum Auto nicht mehr. So geriet sie immer tiefer und tiefer in das Schneegestöber, bis sie dachte, sie würde es nicht weiter schaffen. Da hatte sie das schwache Licht in den Fenstern der Baracke gesehen. Zuerst dachte sie, sie würde sich täuschen, aber je näher sie kam, desto klarer waren die Umrisse zu erkennen und mit letzter Kraft schaffte sie es bis zur Tür. Den Rest würde Konstantin kennen.

Konstantin schwieg lange. Er wußte nicht recht, was er sagen sollte. Er war auch gehemmt, da die Radiomoderation seiner Träume vor ihm saß. Schließlich goß sie sich einen weiteren Tee ein und forderte ihn auf, doch etwas von sich zu erzählen. Sie hatte inzwischen die Möblierung in Augenschein genommen und unschwer festgestellt, daß es mit Konstantin nicht zum Besten bestellt war. Zunächst begann er nur sehr zögerlich von sich zu sprechen. Aber Raphaela war geschickt in den Rückfragen und konnte sich sehr gut in Konstantin hineinversetzen. Überflüssig zu sagen, daß Peterle hierin die Elemente der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte nach Rogers gesehen hätte. Was wußte Peterle schon von Gesprächen! Konstantin taute immer mehr auf und beschloß, nun genauso ehrlich zu erzählen, wie Raphaela das getan hatte. Er sprach von seinen Kindern, von Ann, vom BND, von seiner Lage, von seiner Hoffnungslosigkeit. Zwischendrin war er auch versucht, von der selbstgezimmerten Dusche im Anbau zu sprechen - aber er ließ es dann doch weg, da er die Vermutung hatte, daß Duschen bei Raphaela nicht besonders gut ankamen.

Es war zwei Uhr nachts, bis beide sich ihr Herz ausgeschüttet hatten. Raphaela wollte nun unbedingt noch einen Blick auf die schlafenden Kinder werfen, was Konstantin auch zuließ. Danach stellten sie sich an das Fenster und schauten den Schneeflocken in ihrem Tanz zu. Konstantin hatte irgendwann zwischendurch den Arm um Raphaela gelegt. Sie hatte keinen Widerspruch erhoben und den Kopf an seiner Schulter angelehnt. So schlief sie ein, was Konstantin an irgendeine Szene eines alten Zeichentrickfilms erinnerte, der mit Hunden zu tun hatte. Er trug sie zum Sofa, deckte sie mit der einzigen Decke zu, die noch vorhanden war und rollte sich selbst in den abgeschabten Teppich auf dem Boden ein.

Am nächsten Tag beschloß sie, noch zu bleiben. Sie wurde von den Kindern sofort ins Herz geschlossen - niemand tollte so herrlich mit ihnen im Schnee herum wie sie! Bereits an diesem zweiten Abend fragte sie Konstantin, ob sie nicht immer beieinander bleiben wollten. Er tat sich zunächst mit einer Antwort schwer, dachte dann aber bei sich, daß er ohnehin nichts mehr zu verlieren habe und stimmte zu. Am dritten Tag packten sie die wenigen Habseligkeiten, die in der Baracke waren, in einige große Bündel. Dann machten sich alle vier auf den Weg zu dem Parkplatz, auf dem Raphaela ihr Auto hatte - Konstantin fand den Weg ohne Probleme. So konnten sie den Heiligen Abend bereits in dem geräumigen Haus von Raphaela verbringen, das am Rande von Stuttgart lag. Es war ein Fest, wie es die Kinder noch nie erlebt hatten: Mit all ihren Lieblingsspeisen, mit tollen Geschenken, mit einem wunderschönen Christbaum!

Ja, auch die Zukunft der kleinen neuen Familie wurde glücklich. Konstantin übernahm die Radiosendung von Raphaela. Er hatte weder etwas gegen kleinwüchsige Bartträger noch gegen Duschen und kam ausgesprochen gut mit den Anrufern zurecht. Raphaela tat nun das, was ihr all die Jahre versagt geblieben war: Sie kümmerte sich um die Kinder, hielt das Haus in Schuß und besuchte Volkshochschulkurse. Und an manchen Winterabenden schauten Raphaela und Konstantin mit einem leisen Lächeln durch das Wohnzimmerfenster, während er den Arm um sie schlang und sie ihren Kopf leicht an seine Schulter lehnte.

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