Flirt mit der Zukunft

Haben Sie sich nicht auch schon einmal gefragt, wie menschliche Beziehungen in der Zukunft - sagen wir: in 10 bis 15 Jahren - aussehen werden? Wird man noch miteinander flirten? Wird es noch knisternde Erotik geben? Lassen Sie uns eine kleine Zeitreise unternehmen ...

"Es war einer jener lauen Septemberabende, die ich so liebte. Vor mir stand eine gute Flasche Wild Turkey und ich überlegte, wie ich den Abend verbringen wollte.
Mein Blick schweifte in dem kleinen Büro umher: Die Bildschirmfolie war zusammen mit der Zeigerbrille in der Schublade verstaut, dem kleinen Infrarot-Kasten, der die Verbindung zum Internet herstellte, hatte ich einen Tritt in die Ecke gegeben - nichts erinnerte mehr an die Welt, die schon lange nicht mehr meine Welt war. Ich liebte dieses Telefon, das nirgendwo mehr angeschlossen werden konnte und hatte sogar in der anderen Ecke ein Telefonbuch der letzten Druckausgabe von 2003 liegen.

Während ich müde den Stuhl hinter mich schob, um aufzustehen, fiel mein Blick auf die Tür-Beschriftung: Herby H. Hank, Privat-Detektiv stand da. Ich schnaubte verächtlich durch die Nase - es war ein schmutziger Job. Täglich schnüffelte ich im Internet untreuen Frauen hinterher, die sich VPDs (Very Private Datas) wildfremder Jungs in ihren Fun-Stick luden - oder ihre eigenen Daten zur Verfügung stellten, damit irgendwelche Typen Nachschub für ihren Fun-Ring hatten - sehr zum Mißfallen der Ehemänner. Das störte mich auch nicht weiter, mich wunderte eher, daß es überhaupt noch sowas wie "Ehe" und "Zweierbeziehungen" gab ...
Inzwischen hatte ich mich auf den Weg zu meiner Lieblingslingsbar begeben und hing meinen Gedanken weiter nach. Wie hatte das damals eigentlich bei mir begonnen? Ja, ich erinnerte mich noch genau, während ein Lächeln über meine Lippen glitt: In eine Clare, eine Französin, war ich damals in den 90ern unsterblich verbliebt gewesen, aber natürlich viel zu schüchtern, um sie anzusprechen. Gut, ich war schon immer ein Spätzünder: Die ersten Computererfahrungen sammelte ich mit 11 und mit 16 war ich immer noch Jungfrau.
Aber dann ging es Schlag auf Schlag! Mit 17 schrieb ich meinen ersten Computervirus ("I Hate You" ist noch heute in den Geschichtsbüchern zu finden), wurde daraufhin prompt vom BND eingestellt, der mich aber bald darauf rausschmiß, weil ich die gelöschten Finanz-Daten der CDU in meiner Freizeit rekonstruierte (das war damals eine größere politische Partei, kennt heute aber niemand mehr). Okay, ich wurde mit offenen Armen in einer Internet-Firma aufgenommen und hatte immerhin meine 2 - 3 Millionen Euro mit 19 in der Tasche. Das war damals schon was!

Mein Durchbruch kam, als ich ein kleines unscheinbares Tool erfand, mit dem die System-Abstürze bei Windows der Vergangenheit angehörten (Windows war ein Betriebssystem, das erheblich mehr Leute kannten, als die oben erwähnte Partei - daher werden sich manche noch heute an den Namen erinnern; in Punkto Abstürze waren die beiden Dinge allerdings vergleichbar). Der Aktienkurs unserer Firma stieg ins Unermeßliche, ich konnte die Milliarden bald nicht mehr zählen. Zeitweise wurde ich richtig bürgliche, legte mir diverse Piercings zu und dachte allen Ernstes daran, den Abend statt mit einem Computer mit einer Frau zu verbringen!
So war ich leichte Beute für Moni. Sie war 4D-Programmiererin, zwei Türen neben meiner. Wenn ich ihr über die Schultern schaute und sah, mit welcher Geschwindigkeit sie poplige 3D-Gitter mit Chaos-Algorithmen überzog, durchfuhr mich ein Schauer. Es dauerte nicht lange, und wir kamen uns näher. Damals tauschte man nicht sofort seine VPDs aus, sondern berührte sich anfangs körperlich: Anfassen, durch die Haare fahren, zärtliches Streicheln, sogar Küsse gab es. Erst, wenn es zum Letzten kam, wurden die Opti-Discs mit den Daten ausgetauscht (der Datenbeam über das Internet kam erst einige Jahre später in Mode). Glücklich ging ich mit der Opti-Disc von Moni nach Hause und hatte die wildeste Nacht meines Lebens!

Inzwischen war in der Blue-Chip-Bar angekommen. Es war noch eine richtig altmodische Bar: keine Bildschirmfolien, keine Laser-Räume - nur ein paar Stühle, Tische, eine lange Theke und ein ausgesprochen gutes Whiskey-Sortiment. Wie üblich waren nicht viele Leute anwesend - wer konnte es sich schon leisten, abends nicht am Computer zu arbeiten? Nur reiche Leute. Entsprechend wurde ich gleich von der schwarzhaarigen langbeinigen ins Visier genommen. Ich lehnte mich an die Theke und ließ meine Gedanken weiter schweifen. Wenn die wüßte! Die hielt mich für irgendwas Einflußreiches: Müllmann, Inter-Shop-Austräger oder etwas ähnlich Großartiges. Ich rief meine Bestellung in die dunkle Ecke, in der ich die Barkeeperin vermutete, war mit meinen Gedanken aber schon wieder weit weg, als mir der Wild Turkey hingestellt wurde.

Austräger - das wär' was! Nein, es ging damals alles sehr schnell, so um 2005 herum. Meine Firma wurde von Microsoft verklagt, da plötzlich niemand mehr Lust hatte, die Nachfolge-Versionen von Windows zu kaufen. Das Zeug funktionierte ja tadellos - dank meines Tools! Ich hatte also den Zusammenbruch von Microsoft verursacht, ohne es zu wollen (na ja, ein bißchen vielleicht - denn das Tool hatte ich vorsichtshalber auf einem Mac entwickelt). Über Nacht verlor ich mein ganzes Geld und wurde ein, zwei Jahre wie ein Aussätziger behandelt. Aber dann folgten mir alle meine ehemaligen "Freunde". Computer-, Multimedia- und Internet-Arbeit war plötzlich nichts mehr wert. Die Kids klickten bereits in der Vorschule ihre ersten Programme zusammen, wer es auch nur bis zum SP schaffte (= Simple-Grade, in meiner Jugend hätte man das Hauptschulabschluß genannt) beherrschte von der Systemadminstration bis zur einfachen Interferenz-Programmierung praktisch alles. Wenn die 35jährigen Väter zu Hause ihren Grundschulkindern was von "Homepage", "Flash", "Mpeg8" oder gar "Java" vorplapperten, lächelten diese nur mitleidig. Die neuen Programmierungsmethoden schaffte keiner, der mal die 30 überschritten hatte - aber zu Hilfsdiensten (wie Webmaster, Screendesigner oder Sys-Admin) war er vielleicht gerade noch tauglich. Entsprechend niedrig wurden diese Dienste bezahlt - unter 14 Stunden Arbeit am Tag konnte man sich meist nicht am Leben erhalten. Das war nicht weiter schlimm: Die meisten Eltern hatten damals in Start-Ups begonnen und kannten daher gar keinen anderen Tagesablauf. 90 % der Bevölkerung saßen oder standen inzwischen tagtäglich vor ihren Bildschirmfolien - daher gehörten NSWs (= No-Screen-Workers) zur gehobenen Schicht.

Ich kannte dieses Gefühl. Ich beschloß, die trübsinnigen Gedanken wegzuwischen und meine Umgebung wieder wahrzunehmen. Jetzt erst sah ich, daß die neue Barkeeperin mich unablässig musterte. Auf meinen fragenden Blick hin kam sie näher und schaute mir lächelnd in die Augen.
"Aber 'erbert", sagte sie mit einem französischen Akzent, "erinnerst Du Dich nischt? Wir sind als Kind doch auf die gleiche Schule gegang'n." Tatsächlich - es war Clare! Eine andere Haarfarbe hatte sie, richtig erwachsen war sie geworden - und mein Herz schlug genau wie damals. Innerhalb weniger Minuten waren wir in ein intensives Gespräch vertieft, das Clare nur gelegentlich und widerwillig wegen der Bestellungen unterbrach. Es war herrlich, sich mit ihr zu unterhalten und ich war mir ganz sicher, als sie die Bar abschloß, daß sie mir nun den Code geben würde, damit ich zu Hause ihre VPDs abrufen konnte.
Aber nichts geschah. Ich begleitete sie noch ein Stück des Weges und fragte schließlich vor ihrer Tür, ob sie mir nicht den Code geben würde. Sie sah mir lange in die Augen und sagte dann: "Aber 'erbert" - mir lief es wieder kalt den Rücken runter - "isch 'abe gar keinen Code!" Für einen Moment stand ich völlig verblüfft mit offenem Mund da und wußte nicht, was ich sagen sollte. Sie ergriff einfach meine Hand und sagte, während sie aufschloß: "Isch werde Dir zeigen, wie man es ganz ohne Code machen kann." Dann zog sie mich in den Flur und schloß die Tür. Falls jemand draußen vorbeiging, wird er vielleicht noch meine zweifelnde Frage gehört haben "Du meinst, den Code cracken? Aber das geht nicht - ich habe meinen Fun-Ring nicht dabei. Und überhaupt, wie soll ..." Doch sie verschloß mir den Mund - auf die gute, gute altmodische Art und Weise. Auch alles Weitere war überaus altmodisch - und überaus wunderbar. Wie glücklich müssen die Menschen vor der Erfindung des Internets gewesen sein!

© H. Hertramph/maennerseiten.de 2000

 

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